Geschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965)

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Inhalt

Fünfzehn Jahre gingen ins Land der Täter, Mitläufer und Zuschauer, ins Land des fleißigen Wiederaufbaus und des unverhofften Wirtschaftswunders, bis eine bundesdeutsche Staatsanwaltschaft erstmals systematische und umfassende Ermittlungen gegen SS-Personal des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau (1940–1945) einleitete und im Rahmen eines Sammelverfahrens den Versuch unternahm, den Verbrechenskomplex Auschwitz aufzuklären.

Obschon die Strafverfolgungsbehörden von Amts wegen [StPO § 152] verpflichtet waren, die von Deutschen begangenen Verbrechen zu ahnden, blieben die im Lager Auschwitz verübten Massenmorde bis Anfang der 1960er Jahre weitgehend außer Verfolgung.

Die Gründe für die ausgebliebene Ahndung der Verbrechen waren vielfältig: Der Tatort Auschwitz lag jenseits aller Zuständigkeit einer bundesdeutschen Staatsanwaltschaft, die Täter waren, sofern es sich nicht um die Funktionsebene der Kommandanten handelte, meist unbekannt. Einige Auschwitz-Täter in einstmals höheren Dienststellungen waren teils abgeurteilt, teils verstorben.

Auskünfte von Archiven in Polen und der Sowjetunion, wo die überlieferten Auschwitz-Quellen eventuell Aufschluss über SS-Personal hätten geben können, wurden von deutschen Ermittlern nicht eingeholt bzw. ließen sich infolge der Restriktionen des Kalten Kriegs nicht beschaffen. Auch Überlebenden-Organisationen wurden nicht systematisch um Informationen über NS-Verbrecher gebeten, selbst die publizierten Zeugnisse der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge werteten die Strafjuristen nicht aus.

Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz (1940–1945)

Im Konzentrations- und Vernichtungslager wurden 965.000 Juden, 75.000 Polen, 21.000 Sinti und Roma (Zigeuner), 15.000 sowjetische Kriegsgefangene, 15.000 sonstige Häftlinge (Tabelle 1) ermordet. Von Anfang 1942 bis November 1944, in rund 900 Tagen, kamen ca. 600, vom Reichssicherheitshauptamt der SS in Berlin organisierte »Sonderzüge« der Deutschen Reichsbahn (Tabelle 2) mit Juden aus ganz Europa in dem Todeslager an. Auf der Rampe selektierte die SS, meist Ärzte, die Deportierten. Direkt ins Gas gingen Frauen mit Kindern, Alte und Kranke.

Mindestens 865.000 Juden wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet und in Krematorien und Gruben verbrannt. Ins Lager verbracht, nummeriert und tätowiert und zu meist mörderischer Sklavenarbeit gezwungen wurden 200.000 Juden. Über die Hälfte der registrierten jüdischen Häftlinge überlebte das Lager nicht. Nach der Auflösung von Auschwitz und seiner 40 Nebenlager im Januar 1945 kamen weitere Zehntausende von Häftlingen auf Todesmärschen oder in anderen, im Innern des Deutschen Reiches gelegenen Lagern um.

Die nach Auschwitz deportierten Juden kamen aus folgenden Ländern: Ungarn, Polen, Frankreich, Niederlande, Griechenland, Tschechoslowakei, Belgien, Jugoslawien, Italien, Norwegen, Österreich und Deutschland (Tabelle 3).

8000 Angehörige der SS, darunter 200 Frauen (SS-Gefolge), taten von Mai 1940 bis Januar 1945 Dienst in Auschwitz. Die meisten gehörten den Wachkompanien an, Hunderte aber waren Funktionsträger in der Lageradministration und leisteten einen kausalen Tatbeitrag zum Vernichtungsgeschehen.

Etwa 800 Auschwitz-Täter wurden in den ersten Jahren nach der Befreiung des Lagers abgeurteilt, nahezu 700 von polnischen Gerichten. Vor bundesdeutschen Richtern standen nur 42 Angeklagte, neben 35 vormaligen SS-Angehörigen auch sieben Funktionshäftlinge.

Nicht die Ahndungsbemühungen einer westdeutschen Staatsanwaltschaft, sondern die Initiativen von Überlebenden waren es gewesen, die die Ermittlungen im Falle des Auschwitz-Prozesses in Gang brachten.

Die Vorgeschichte des Frankfurter Auschwitz-Prozesses

Die Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses ist exemplarisch für die justizielle Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre. In aller Deutlichkeit zeigt sie, wie unzulänglich in der Adenauer-Ära die juristische Verfolgung der NS-Täter gewesen war.

Ein wegen Betrugs verurteilter, in der Haftanstalt Bruchsal (bei Karlsruhe) einsitzender ehemaliger Auschwitz-Häftling zeigte im März 1958 bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart den vormaligen Angehörigen der Auschwitzer Lagergestapo, Wilhelm Boger, an. Boger lebte unbehelligt in der Nähe der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Schleppend nur kamen die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in Gang. Erst der vom Internationalen Auschwitz-Komitee, einer Organisation von Auschwitz-Überlebenden, durch seinen Generalsekretär Hermann Langbein (Wien) ausgeübte Druck veranlasste die Stuttgarter Strafverfolgungsbehörde, durch die Vernehmung von Zeugen (Auschwitz-Überlebenden) – allesamt von dem Anzeigeerstatter Adolf Rögner und von Hermann Langbein benannt – Beweismittel im Fall Boger herbeizuschaffen. Im Oktober 1958 wurde endlich auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Amtsgericht Stuttgart Haftbefehl gegen Boger erlassen.

Boger war laut Haftbefehl »dringend verdächtig«, in Auschwitz im April 1943 einen Menschen »aus Mordlust« getötet zu haben, »indem er als Oberscharführer der SS in dem Konzentrationslager bei einer befohlenen Exekution, die er als rechtswidrig erkannt hatte, aus Lust am Töten einen Häftling mit der Pistole erschoss«. Der einstige Angehörige der Lagergestapo wurde in Untersuchungshaft genommen.

Im Januar 1959 übergab der Holocaust-Überlebende Emil Wulkan dem Journalisten Thomas Gnielka Auschwitz-Dokumente, Schreiben der Auschwitzer Kommandantur sowie des SS- und Polizeigerichts XV in Breslau aus dem Jahr 1942. In der Korrespondenz waren SS-Männer aufgelistet, die Häftlinge angeblich »auf der Flucht« erschossen hatten, sowie die Namen der getöteten Lagerinsassen.
Gnielka erkannte die Bedeutung der Schriftstücke und leitete sie umgehend an den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968) weiter. Bauer war seit 1956 Generalstaatsanwalt in Hessen und hatte sich auch zur Aufgabe gemacht, die NS-Verbrechen durch die hessische Justiz zu ahnden. Zuständig für das in Auschwitz begangene Menschheitsverbrechen war die Frankfurter Staatsanwaltschaft freilich nicht. Um in der Sache tätig werden zu können – was die erklärte Absicht Fritz Bauers war – musste der Bundesgerichtshof (BGH) auf der Grundlage von § 13a Strafprozessordnung (StPO) das Landgericht Frankfurt am Main für zuständig erklären. Mit Beschluss vom 17. April 1959 (Gerichtsstandsbestimmung) übertrug der BGH die Untersuchung und Entscheidung in der angestrengten Sache gegen Auschwitz-Täter dem Frankfurter Landgericht.

Die Ermittlungen gegen Auschwitz-Täter

Umfangreiche Ermittlungen gegen über 1.200 Beschuldigte wurden von den beiden Staatsanwälten Georg Friedrich Vogel und Joachim Kügler, von Bauer als Sachbearbeiter des Verbrechenkomplexes Auschwitz beauftragt, eingeleitet. Über 1.000 Zeugen (Überlebende und vormalige SS-Angehörige) wurden im Verlauf des Vorverfahrens (Ermittlungssache und gerichtliche Voruntersuchung) vernommen.

Als nach vierjähriger intensivster Arbeit der Staatsanwälte Vogel und Kügler sowie des Untersuchungsrichters Heinz Düx (von Juli 1961 bis Oktober 1962) die Frankfurter Staatsanwaltschaft die Anklageschrift gegen 24 Angeschuldigte beim Landgericht (LG) Frankfurt am Main im April 1963 eingereicht und mit Beschluss des LG Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1963 das Hauptverfahren eröffnet wurden, sodann Ende Dezember 1963 die Hauptverhandlung gegen nunmehr 22 Angeklagte begann, war die »Strafsache gegen Mulka u.a.« mehr als nur ein Strafprozess wegen Mordes bzw. wegen Beihilfe zum Mord.

Neben dem Nachweis von Tatumfang und Tatschuld der einzelnen Angeklagten war es das erklärte Ziel der Strafverfolger, über die menschheitsgeschichtlich beispiellose Massenvernichtung in Auschwitz im Rahmen eines Sammelverfahrens gegen Holocaust-Täter aufzuklären, das Gesamtgeschehen in Auschwitz zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Durch das Verfahren wollten die Ankläger einen Beitrag zur Bildung eines neuen, durch den Nazismus und die »Verstrickung« der Tätergeneration so schwer beschädigten Rechtsbewusstseins leisten.

Die Angeklagten hatten sich vor einem Schwurgericht zu verantworten, das sich aus drei Berufs- und sechs Laienrichtern (Geschworene) zusammensetzte. Hinzu kamen noch zwei Ersatz- bzw. Ergänzungsrichter und drei Ersatzgeschworene.

Die Hauptverhandlung (20.12.1963–20.8.1965)

Der Auschwitz-Prozess dauerte 20 Monate und begann am 20. Dezember 1963 im Saal des Stadtparlaments im Frankfurter Rathaus (Römer). Die Räumlichkeit waren der Justizverwaltung von der Stadt Frankfurt am Main großzügiger Weise zur Verfügung gestellt worden, weil die Frankfurter Justiz selbst keinen Raum von der erforderlichen Größe besaß. Ende März 1964 zog das Gericht in das neuerbaute Bürgerhaus Gallus um, in dem der Prozess bis zur Urteilsverkündung im August 1965 fortgesetzt wurde.

Angeklagt waren zwei Adjutanten des Kommandanten (Robert Mulka und Karl Höcker), ein Schutzhaftlagerführer (Franz Hofmann), drei SS-Ärzte (Franz Lucas, Willy Frank, Willi Schatz), ein SS-Apotheker (Victor Capesius), ein Rapportführer (Oswald Kaduk), Angehörige der Lagergestapo/Politische Abteilung (Wilhelm Boger, Pery Broad, Klaus Dylewski, Hans Stark, Johann Schoberth), Sanitätsdienstgrade (Josef Klehr, Emil Hantl, Herbert Scherpe, Gerhard Neubert), zwei Blockführer (Heinrich Bischoff, Stefan Baretzki), ein Arrestaufseher (Bruno Schlage) und ein Angehöriger der Abt. Verwaltung (Arthur Breitwieser). Auch ein Funktionshäftling (Emil Bednarek) stand vor Gericht.

Den Angeklagten zur Seite standen Wahl- und Pflichtverteidiger. Ein Angeklagter hatte zwei Rechtsbeistände. Ein Anwalt konnte mehr als einen Angeklagten vertreten.

Den Angeklagten gegenüber standen die Vertreter der Strafverfolgungsbehörde, insgesamt vier Staatsanwälte. Im Interesse der Opfer und ihrer Angehörigen vertraten drei Rechtsanwälte, Henry Ormond und Christian Raabe (Frankfurt am Main) und Friedrich Karl Kaul (Ost-Berlin) insgesamt 21 Nebenkläger. Als Nebenkläger gegen bestimmte Angeklagte waren 15 Überlebende bzw. Angehörige aus den Ländern zugelassen, aus denen Juden nach Auschwitz deportiert worden waren. Sie wurden von Ormond und Raabe vertreten Der Ost-Berliner Anwalt Kaul vertrat sechs Überlebende bzw. Angehörige von Opfern aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR).

Nach der Vernehmung der 22 Angeklagten zu Person und Sache und der von der Strafprozessordnung vorgeschriebenen Verlesung des Eröffnungsbeschlusses, in dem die gegen die Angeklagten vorliegenden Tatvorwurfe aufgeführt waren, trugen zu Beginn der Beweisaufnahme Historiker umfassende, von der Anklagebehörde in Auftrag gegebene Gutachten vor.

Die Sachverständigen stellten die Terrorherrschaft der SS, das KZ, die nationalsozialistische Polen- und Vernichtungspolitik (Holocaust) sowie die Verbrechen an Angehörigen der Roten Armee (massenweise Erschießung von sogenannten politischen Kommissaren) dar.

Im Verlauf der Beweisaufnahme, die von Februar 1964 bis Mai 1965 dauerte, wurden 360 Zeugen vernommen. Darunter waren 211 Auschwitz-Überlebende und 54 vormalige Angehörige der Auschwitzer SS.
Die davongekommenen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik konfrontierten die deutsche Gesellschaft mit Taten, die zu verdrängen und zu vergessen die Wohlstandsbürger so erfolgreich bemüht gewesen waren. Täter standen vor einem Schwurgericht, die sich nach 1945 umstandslos in das Nachkriegsdeutschland hatten integrieren können.

Die Angeklagten leugneten nahezu gänzlich jegliche Beteiligung an den Verbrechen. Den Völkermord in Auschwitz stellten sie allerdings nicht in Abrede, die Massenvernichtung insbesondere von Juden stritten sie keineswegs ab. Eigene Tatbeiträge gestanden sie aber nur selten ein. Hatten sie mitgemacht, dann nur auf Befehl und gezwungenermaßen. Mitverantwortung an den Verbrechen wiesen sie weit von sich.

Urkunden (Dokumente), die die individuelle Schuld der Angeklagten hätten beweisen können, gab es in dem Verfahren so gut wie keine. Sachbeweise standen kaum zur Verfügung. Die Zeugen, meist Verbrechensopfer, waren das Beweismittel, auf das sich die Tatrichter in ihrer Schuldfeststellung stützen mussten. Obgleich der Zeitabstand zur Tat ungewöhnlich groß, die Beweisvergänglichkeit mithin genauestens zu berücksichtigen war, konnte sich das Gericht bei seiner »Erforschung der Wahrheit« (§ 244 StPO) auf eine Vielzahl von glaubwürdigen und verlässlichen Zeugen stützen.

Nicht nur Zeugen wurden gehört und Urkunden verlesen, das Gericht reiste auch im Dezember 1964 nach Auschwitz, um den Tatort in „Augenschein“ zu nehmen. Die Reise hinter den Eisernen Vorhang war ein außergewöhnlicher Vorgang. Die Bundesrepublik Deutschland hatte mit der Volksrepublik Polen keine diplomatischen Beziehungen. Eine Amtshandlung eines deutschen Gerichts im Ausland war nur möglich, wenn das Gastland dem Gericht Souveränitätsrechte vorübergehend übertrug. Polen war dazu bereit und ermöglichte, dass ein beauftragter Richter zusammen mit vielen Prozessbeteiligten an zwei Tagen eine Ortsbesichtigung im Stammlager und in Birkenau durchführten. Die Eindrücke, die insbesondere die mitgereisten Verteidiger gewannen, veränderten ab Januar 1965 die Atmosphäre im Frankfurter Gerichtssaal.

Das Urteil

Die Tötung von Menschen in Auschwitz werteten die bundesdeutschen Gerichte als rechtswidrige Tat, als Verbrechen. Das Tötungsverbot galt auch in dem .... Die Befehle Hitlers (oder die Befehle der in den SS-Hauptämtern tätigen Vorgesetzten der in Auschwitz handelnden SS-Angehörigen) hatten den Mordparagrafen § 211 des Strafgesetzbuches nicht aufgehoben.

Bei den von SS-Angehörigen in Auschwitz begangenen Tötungen war in strafrechtlicher Sicht zu unterscheiden:

  1. Tötungen, die die Angeklagten eigenmächtig, aus eigener Initiative begingen und
  2. Tötungen, die sie auf Befehl überübten.

Die befehlslosen, also eigenmächtigen, meist aus Mordlust und Rassenhass (aus niedrigen Beweggründen) sowie auf grausame Weise begangenen Taten ließen sich unschwer dem Mordparagrafen zuordnen.
Die meisten Angeklagten handelten aber auf Befehl, beteiligten sich zusammen mit anderen an den von der Staatsführung angeordneten Massentötungen. Die strafrechtliche Verantwortung der auf Staatsbefehl handelnden Angeklagten war weniger einfach zu bewerten.

Die Angeklagten des Auschwitz-Prozesses waren Angehörige der Waffen-SS (ausgenommen der Angeklagte Emil Bednarek). Nach einer Verordnung aus dem Jahre 1939 unterstand die SS der Militärgerichtsbarkeit. Nach dem Militärstrafgesetzbuch (MStGB 47), das neben dem Strafgesetzbuch anzuwenden war, ist bei »Befehlen in Dienstsachen«, die ein Strafgesetz (z. B. den § 211 StGB) verletzen, der Vorgesetzte zur Verantwortung zu ziehen, nicht der ausführende Befehlsempfänger, der Untergebene. Im Falle aber, wenn ein erteilter Befehl ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckt und dem Untergebenen, dem Befehlsausführenden dieser Umstand bekannt ist, trifft ihn die Strafe des Teilnehmers. Neben dem Vorgesetzten ist somit auch der Untergebene für die gesetzwidrige Tat zur Rechenschaft zu ziehen.

Das Frankfurter Schwurgericht hatte im Falle der Massenverbrechen in Auschwitz festzustellen, ob die Angeklagten bei den befohlenen Tötungen, die sie als Untergebene verübten, strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen waren. Nach Erkenntnis der Richter hatten die Angeklagten durchweg gewusst, dass die erteilten Tötungsbefehle Verbrechen zum Zweck hatten. Sie hatten das für die Feststellung ihrer Schuld erforderliche Unrechtsbewusstsein. Ihnen war die Rechtswidrigkeit der erteilten Befehle klar. Somit waren ihnen die Taten, an denen sie auf Befehl beteiligten waren, individuell zuzurechnen.

Die Angeklagten befanden sich in Auschwitz in einem Befehls-Gehorsams-Verhältnis. Hinsichtlich der ungesetzlichen Tötungsbefehle handelten die Angeklagten nach Erkenntnis des Gerichts nicht in einem Notstand, der sie entschuldigt hätte. Die Angeklagten wurden nach Auffassung der Richter nicht durch unmittelbare Gefahr für Leib oder Leben gezwungen, die Befehle auszuführen. Keinem war somit durch unwiderstehliche Gewalt oder durch Drohung mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise als durch befehlsergebenes Handeln nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben die Befehlsausführung abgenötigt worden. Der Wille der Angeklagten war nicht gebeugt worden.

Die Angeklagten befanden sich also weder in einem Irrtum darüber, dass die Befehle rechtens waren. Sie handelten auch nicht in einem Notstand. Zurechenbar waren ihnen die Taten, weil sie als Handelnde zu bewerten waren, die sich auch anders hätten verhalten können.

Verbotsirrtum, Notstandsituation und mangelnde Zurechnungsfähigkeit hätten die Angeklagten entschuldigt. Keinen der Entschuldigungsgründe sah das Gericht im Auschwitz-Prozess als gegeben an. Die Angeklagten hatten sich mithin auch in den Fällen, in denen sie auf Befehl rechtswidrige Tötungen begingen, schuldig gemacht. Ihnen waren ihre Taten strafrechtlich vorzuwerfen. Wegen Mordes bzw. wegen Mordbeihilfe waren sie auf der Grundlage des vom Gericht angewandten Schuldstrafrechts zu Zuchthausstrafen zu verurteilen.

Das Gericht verhängte gegen die Angeklagten Hofmann, Kaduk, Boger, Klehr, Baretzki und Bednarek, denen unbefohlene, also eigenmächtige Tötungen – meist aus niedrigen Beweggründen und grausam verübt (§ 211 StGB ) – zweifelsfrei nachgewiesen werden konnten, lebenslange Zuchthausstrafen wegen Mordes.

Den Angeklagten Stark verurteilte das Gericht wegen auf Befehl begangenen gemeinschaftlichen Mordes (in mehreren Fällen) in Anwendung von § 105 Jugendgerichtsgesetz zu zehn Jahren Jugendstrafe, da der Angeklagte zur Tatzeit noch unter 21 Jahren gewesen war.

Die Beteiligung von Hofmann, Kaduk und Stark an der von der verbrecherischen Staatsführung befohlenen Massenvernichtung von Juden sowie von Sinti und Roma (Zigeuner) wertete das Gericht gleichfalls als (gemeinschaftlichen) Mord, es qualifizierte diese drei Angeklagten mithin hinsichtlich ihrer auf Befehl verübten Tötungen als Mittäter. Sie hatten nach Auffassung des Schwurgerichts die angeordneten Taten als eigene gewollt, sie hatten sich mit den Vernichtungszielen des NS-Regimes identifiziert. Diese vom Gericht festgestellte »innere Einstellung« der Angeklagten zu den befohlenen Tötungen qualifizierte Hofmann, Kaduk und Stark als Mittäter. Sie hatten mit Täterwillen gehandelt.

Die Teilnahme der Angeklagten Boger, Klehr, und Baretzki an auf Befehl durchgeführten Vernichtungsaktionen beurteilte das Gericht hingegen als Beihilfehandlungen. Nach Würdigung aller Beweise gelangten die Richter in Bewertung der »inneren Einstellung« der Angeklagten zu den Taten bzw. ihrer »Willensrichtung« zu dem (umstrittenen) Urteil, dass diese drei SS-Angehörigen – ansonsten (wie oben ausgeführt) wegen eigeninitiativer, befehlsloser, rechtswidriger Tötungen aus niedrigen Beweggründen und wegen grausamer Tötungen als Mörder abgeurteilt – im Falle der befohlenen Massenmorde die Taten nicht als eigene gewollt, vielmehr als fremde nur gefördert hatten. Sie hatten dem Gericht zufolge nur mit Gehilfenwillen gehandelt, waren also nicht Mittäter wie Hofmann, Kaduk und Stark, sondern nur Gehilfen.

Auch die übrigen Angeklagten (Mulka, Höcker, Capesius, Frank, Lucas, Dylewski, Broad, Schlage, Scherpe und Hantl), in zum Teil höheren Dienst- und Rangstellungen, hatten nach Auffassung des Schwurgerichts ausschließlich auf Befehl und ohne eigenen Willen an den Verbrechen mitgewirkt. Die Frankfurter Richter verurteilten sie in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BGH) folglich als bloße Gehilfen, nicht als Mittäter.

Der des Mordes überführte Angeklagte, als Täter oder Mittäter qualifiziert, war nach dem in den 1960er Jahren geltenden Gesetz zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen. Auch gegen den Mordgehilfen konnte diese Freiheitsstrafe ausgesprochen werden. Beim Gehilfen aber ließen sich bei der richterlichen Strafzumessung Gründe geltend machen, die eine Milderung der Strafe zur Folge hatten. Durchweg hat das Gericht bei den als Gehilfen qualifizierten Angeklagten Strafmilderungsgründe veranschlagt. Die Beeinflussung durch NS-Propaganda und NS-Ideologie, die „beispiellose geistige Verwirrung“ während der Zeit des „Dritten Reiches“ und der Umstand, dass die „Tatantriebe“ zu den Verbrechen von der deutschen Staatsführung ausgegangen waren, milderten die Schuld der Angeklagten.

Die verhängten zeitigen, meist milden Zuchthausstrafen (dreieinviertel Jahre bis vierzehn Jahre) waren keine schuldangemessene Sühne (als Strafzweck im Urteil genannt) für ihre Teilnahme an dem vom deutschen Verbrecherstaat angeordneten Völkermord. Das Gerechtigkeits- und Rechtsempfinden der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik und ihrer Angehörigen ist durch das oft niedrige Strafmaß, das der Tatschuld der Angeklagten nicht angemessen war, fraglos empfindlich verletzt worden.

Im schriftlichen Urteil hat das Gericht selbstkritisch die Unangemessenheit seines eigenen Tuns hervorgehoben:

„Angesichts der unzähligen Opfer eines verbrecherischen Regimes und dem unsäglichen Leid, das die in der Geschichte beispiellose, planmäßig betriebene, auf teuflische Weise ersonnene Ausrottung von Hunderttausenden von Familien nicht nur über die Opfer selbst, sondern über unzählige Menschen, vor allem über das gesamte jüdische Volk gebracht und das deutsche Volk mit einem Makel belastet hat, erscheint es kaum möglich, durch irdische Strafen eine dem Umfang und der Schwere der im KL Auschwitz begangenen Verbrechen angemessene Sühne zu finden.“

Strafverbüßung

Zur Frage der Verbüßung der ergangenen Freiheitsstrafen lassen sich auf der Grundlage nicht vollständig erhaltener Strafvollstreckungsakten folgende Feststellungen treffen:

Hofmann
geb. 1906,
Strafmaß: lebenslanges Zuchthaus;
Untersuchungshaft seit 1959,
Strafhaft in anderer Sache seit 1962,
1973 in Strafhaft verstorben.

Boger
geb. 1906,
Strafmaß: lebenslanges Zuchthaus,
Untersuchungshaft seit Oktober 1958,
1977 in Strafhaft verstorben.
 
Klehr
geb. 1904,
Strafmaß: lebenslanges Zuchthaus und 15 Jahre,
Untersuchungshaft seit September 1960,
Haftentlassung 1988,
1988 verstorben.

Kaduk
geb. 1906,
Strafmaß: lebenslanges Zuchthaus
Untersuchungshaft seit Juli 1959
Haftentlassung 1989
1997 verstorben.

Baretzki geb. 1919,
Strafmaß: lebenslanges Zuchthaus und 8 Jahre,
Untersuchungshaft seit April 1960,
beging 1988 in Strafhaft Selbstmord.

Bednarek
geb. 1907,
Strafmaß: lebenslanges Zuchthaus,
Untersuchungshaft seit November 1960,
nach Gnadenentscheidung 1975 Haftentlassung,
2001 verstorben.

Stark
geb. 1921,
Strafmaß: 10 Jahre Jugendstrafe
Untersuchungshaft von April 1959 bis Oktober 1963 sowie ab Mai 1964,
1968 Haftverschonung.
1991 verstorben.

Mulka
geb. 1895,
Strafmaß: 14 Jahre Zuchthaus
Untersuchungshaft von November 1960 bis März 1961, Mai bis Dezember 1961, Februar bis Oktober 1964 und ab Dezember 1964,
wegen Haftunfähigkeit im Jahre 1968 aus der Untersuchungshaft entlassen,
1969 verstorben.

Höcker
geb. 1911,
Strafmaß: 7 Jahre Zuchthaus,
Untersuchungshaft ab März 1965,
1970 bedingt aus der Strafhaft entlassen,
2000 verstorben.

Capesius
geb. 1907,
Strafmaß: 9 Jahre Zuchthaus,
Untersuchungshaft seit Dezember 1959,
Entlassung aus der Untersuchungshaft Anfang 1968,
1985 verstorben.

Frank
geb. 1903,
Strafmaß: 7 Jahre Zuchthaus,
Untersuchungshaft seit Oktober 1964,
1970 aus Strafhaft entlassen,
1989 verstorben.

Lucas
geb. 1911,
Strafmaß: 3 Jahre und 3 Monate Zuchthaus,
Untersuchungshaft seit März 1965,
März 1968 aus der Untersuchungshaft entlassen, im Oktober 1970 vom LG Frankfurt am Main (Neuverhandlung) freigesprochen,
1994 verstorben.

Broad
geb. 1921,
Strafmaß: 4 Jahre Zuchthaus
Untersuchungshaft von April 1959 bis Dezember 1960, November 1964 bis Februar 1966,
Haftentlassung 1966,
1994 verstorben.

Dylewski
geb. 1916,
Strafmaß: 5 Jahre Zuchthaus
Untersuchungshaft von April bis Mai 1959, Dezember 1960 bis März 1961 und ab Oktober 1964,
Haftentlassung 1968,
Dylewski lebte im Jahr 2004 noch.

Schlage
geb. 1903,
Strafmaß: 6 Jahre Zuchthaus,
Untersuchungshaft seit April 1964,
erhielt 1969 Strafaufschub,
1977 verstorben.

Scherpe
geb. 1907,
Strafmaß: 4 Jahre und 6 Monate Zuchthaus,
Untersuchungshaft seit August 1961,
wurde am 19. August 1965 nach der Urteilsverkündung entlassen,
1997 verstorben.

Hantl
geb. 1902,
Strafmaß: 3 Jahre und 6 Monate Zuchthaus,
Untersuchungshaft seit Mai 1961,
wurde am 19. August 1965 nach der Urteilsverkündung entlassen,
1984 verstorben.

Rückblick auf die Geschichte der Ahndung der NS-Verbrechen

Die Ära der Ahndung der NS-Verbrechen ist heute (2007) abgeschlossen. Die Prozesse gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher sind nunmehr Gegenstand der historischen Forschung. Zieht man Bilanz, so müssen die Anstrengungen der bundesdeutschen Justiz, den Holocaust, das deutsche Verbrechen an der Menschheit, auf der Grundlage des zur Tatzeit geltenden Strafrechts (Reichsstrafgesetzbuch von 1871) zu ahnden, als gescheitert gelten.

Der Bonner Gesetzgeber unterließ in den 1950er Jahren rechtspolitische Schritte, eine den Verbrechen angemessene Verfolgung der Täter zu ermöglichen. Die von den Alliierten in den Nürnberger Prozessen erarbeiteten Rechtsgrundlagen haben deutsche Rechtspolitiker und Rechtswissenschaftler aus rechtsgrundsätzlichen Erwägungen (Verbot von Gesetzen mit rückwirkender Kraft) und aus politischen Gründen verworfen. Die höchstrichterliche Judikatur in Karlsruhe (Bundesgerichtshof) erschwerte jegliche Rechtsschöpfung durch die Gerichte, die angesichts der Dimension der Verbrechen durch eine weiterführende Auslegung des positiven Rechts notwendig gewesen wäre.